Ben Colagiuri

Prof. Ben Colagiuri - Professor und Leiter der Fakultät für Psychologie der Universität von Sydney/Australien

Wer Symptome intensiv genug fürchtet, bekommt sie oft auch. Das gilt besonders für Symptome, die unspezifisch bei vielen Erkrankungen auftreten, z. B. Kopfweh oder Unwohlsein. Wenn viele andere Patientinnen und Patienten online von einer bestimmten Nebenwirkung eines Medikaments berichten, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch jemand, der davon liest, diese zuvor unbemerkte Nebenwirkung erst erwartet und dann tatsächlich spürt. So kann der Noceboeffekt durch die intensive Beschäftigung mit Gesundheitsinformationen in der digitalen Welt einen Heilungsprozess behindern und eine Erkrankung sogar begünstigen.

Covid-19 ist ein faszinierendes und auch sehr aussagekräftiges Beispiel wie sich Noceboeffekte über soziale Medien verbreiten. Dass Impfungen gegen Covid-19 unerwünschte Wirkungen haben können, ist bekannt. Aber es stellte sich auch heraus, dass Nebenwirkungen häufiger berichtet und auch als stärker beschrieben wurden, wenn Menschen vor der Impfung negativen Meldungen von Post-Impfreaktionen in den sozialen Medien und durch persönliche soziale Kontakte ausgesetzt waren.

Ben Colagiuri ist einer der internationalen Experten, der die Rolle von Erwartungen und Placebo-und Noceboeffekten untersucht, zum Beispiel wie Warnungen über mögliche Nebenwirkungen die Häufigkeit und den Schweregrad der dann tatsächlich auftretenden Nebenwirkungen beeinflussen. „Wenn wir im Rahmen einer Studie bei einer Gruppe eine Placebobehandlung gegen Schlafstörungen starten und dabei Warnungen bezüglich Nebenwirkungen ansprechen, dann wird diese Gruppe – im Vergleich zu der Gruppe, die nur das Placebo und keine Warnungen erhielt – von mehr Nebenwirkungen berichten“, bestätigt Ben Colagiuri.

In zwei Studien untersuchte Colagiuri gemeinsam mit Forschenden aus Australien, den USA, Großbritannien und Dänemark den Zusammenhang zwischen Beiträgen in den sozialen Medien wie Twitter und den eigenen Nebenwirkungen der Covid-19-Impfung.

  • Zunächst wurden 280 Personen in Australien retrospektiv dazu befragt. Das Ergebnis: Je mehr negative persönliche Posts die Befragten über Nebenwirkungen der Impfung auf diversen sozialen Plattformen gelesen hatten, desto stärker berichteten sie über Nebenwirkungen nach ihrer Corona-Impfung. Dieser Zusammenhang zeigte sich umso stärker, je ängstlicher, depressiver und gestresster sich die Befragten selbst einschätzten. Handelte es sich um eine soziale Community im Internet, die einem nahesteht, dann war der Effekte umso stärker. Und auch der Faktor, ob man generell den sozialen Netzwerken mehr vertraut als zum Beispiel offiziellen Regierungsverlautbarungen, spielte eine Rolle. Wem die Personen mehr vertrauten, nahm stärker Einfluss auf ihre Erwartungshaltung und auch auf die Ausprägung von unerwünschten Wirkungen.
  • In einer sogenannten prospektiven Studie, also vor einer Impfung, wurden 551 Teilnehmende vor ihrer Covid-19-Impfung zunächst nach ihrem Medienkonsum (Nachrichten im Vergleich zu Posts in den sozialen Medien) befragt und dazu, welche Informationen sie in der persönlichen Kommunikation im Bekanntenkreis erhielten. Nach der Impfung gaben sie zu den aufgetretenen Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Fieber und Gliederschmerzen Auskunft. Das Ergebnis hier: Die Anzahl der angesehenen negativen Posts in sozialen Netzwerken und negative Informationen im persönlichen Umfeld erhöhten zunächst die negativen Erwartungen in Bezug auf Impfnebenwirkungen. Nach der zweiten Befragung stellte sich zudem heraus, dass die negativ Vorinformierten auch stärkere und häufigere Nebenwirkungen spürten. „Dies lässt vermuten, dass das, was wir von anderen über soziale Netzwerke hören und sehen, die Macht hat, unsere eigene Reaktion zu beeinflussen – und zwar über Noceboeffekte“, erklärt Colagiuri.

Der Millionen-Post von Elon Musk

Ein eindrucksvolles Beispiel zeigt, wie groß die Reichweite eines Posts in den sozialen Medien sein kann. Elon Musk, mit Tesla, SpaceX, Twitter und vielen weiteren Technologieunternehmen einer der reichsten, bekanntesten, aber auch umstrittensten Menschen, postete am 21.1.2021 auf Twitter (Übersetzung von Twitter): „Ich hatte starke Nebenwirkungen von meiner zweiten Auffrischungsimpfung. Ich fühlte mich, als würde ich mehrere Tage lang sterben. Hoffentlich keine bleibenden Schäden, aber ich weiß nicht.“

20 Millionen User haben den Tweet gesehen, 155 000 haben ihn mit „Gefällt mir“ markiert. Insgesamt hat Elon Musk 141 Millionen Follower (Stand Mai 2023).

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.