Zwischen acht und zehn Prozent der deutschen Bevölkerung nehmen Antidepressiva ein – das sind etwa 4,5 Millionen Dosen an jedem Tag. Die meisten PatientInnen könnten das Medikament nach etwa einem Jahr wieder absetzen, doch das Absetzen gelingt oft nicht. Dabei läge die Kostenersparnis bei etwa 250 Millionen Euro jährlich. Belastende Absetzphänomene und der Noceboeffekt führen dazu, dass Antidepressiva teilweise viel länger als nötig eingenommen werden. Mehr als jede dritte Person, die Antidepressiva über lange Zeit einnimmt, bräuchte diese eigentlich nicht mehr. Hinzu kommen unerwünschte Nebenwirkungen durch die nicht mehr indizierte Einnahme, die die PatientInnen ebenso wie das Gesundheitssystem belasten. Studienergebnisse von Prof. Yvonne Nestoriuc an der Helmut-Schmidt-Universität und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legen nahe, dass bessere Informationen, ein intensives Aufklären und das Wecken positiver Erwartungen den unheilvollen Kreislauf aus „Einmal Antidepressivum, immer Antidepressivum“ durchbrechen können. Ihre Forderung: „Klarere Informationen für PatientInnen und eine bessere Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen.“
Antidepressiva sind nur in seltenen Fällen als lebenslange Therapie sinnvoll, denn mit der Langzeittherapie gehen auch unerwünschte Nebenwirkungen einher. Dazu zählen Gewichtszunahmen, sexuelle Probleme und ein erhöhtes Risiko für Herzrhythmusstörungen. Die medizinische Empfehlung ist deshalb: Nach einer kurzen Aufdosierungsphase bis hin zur empfohlenen individuellen Standarddosis entfalten Antidepressiva nach etwa vier Wochen ihre volle Wirksamkeit. Tritt unter Einnahme des Antidepressivums eine Verbesserung der depressiven Symptome auf, sollte das Antidepressivum noch vier bis neun weitere Monate eingenommen werden, bei mehrfachen depressiven Episoden weitere zwei Jahre. Herrscht dann immer noch weitgehende Symptomfreiheit, sollte ein Absetzversuch erfolgen. Aber hier liegt das Problem: Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwäche, Reizbarkeit, Übelkeit, Schmerzen – diese und weitere Symptome können auftreten, wenn PatientInnen nach Besserung der Depression versuchen, ihr Antidepressivum wieder abzusetzen. Diese Absetzphänomene können bei fast allen Antidepressiva auftreten. Betroffene PatientInnen erleben möglicherweise Schlaflosigkeit, ihnen ist schwindelig, oder sie sind sehr reizbar. All das sind aber auch charakteristische Symptome einer beginnenden Depression. So entsteht schnell die Angst vor einem Rückfall in die Depression, weshalb PatientInnen den Absetzversuch oftmals abbrechen. Selbst betreuende ÄrztInnen können oft nur schwer zwischen Rückfall und Absetzproblematik unterscheiden. So entsteht für PatientInnen ein Kreislauf aus negativen Erwartungen, die wiederum negative Beschwerden hervorrufen – bedingt durch den Noceboeffekt (lateinisch: „Ich werde schaden“). Untersuchungen zeigen, dass der Noceboeffekt Prozesse im zentralen Nervensystem anstößt, die zu körperlichen Veränderungen führen können. Er wirkt wie eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, die Angst vor einem möglichen Rückfall in die Depression verstärkt die Selbstbeobachtung, und die normalerweise rasch vorübergehenden Beschwerden beim Absetzen werden als Rückfall missverstanden. Hinzu kommt: In einschlägigen Absetzforen im Internet und auf Infoseiten werden oft nur negative Symptome und besonders gravierende Fälle beschrieben. „Das fördert den Noceboeffekt weiter“, warnt Yvonne Nestoriuc, Professorin für Klinische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. „Es ist ein Missstand, dass viele PatientInnen ihr Antidepressivum viel zu lange einnehmen.“ Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Treatment Expectation“ erforscht sie die Ursachen der misslungenen Absetzversuche. „Pharmakologisch sind sehr viele PatientInnen beim Absetzversuch von Beschwerden betroffen. Wie groß der Noceboeffekt dabei genau ist, wollen wir mit unserer aktuellen Absetzstudie herausfinden“, erklärt Nestoriuc. „Ohne therapeutische Begleitung missdeuten PatientInnen die Absetzsymptome häufig“, deshalb sei verstärkte Aufklärung und vor allem eine Begleitung durch PsychiaterInnen, HausärztInnen und andere FachärztInnen, die Antidepressiva verschreiben, vonnöten.
Studienergebnisse von Prof. Nestoriuc mit PatientInnen, die Antidepressiva einnehmen, legen nahe, dass bessere Informationen, ein intensives Aufklären und das Wecken positiver Erwartungen den unheilvollen Kreislauf aus „Einmal Antidepressivum, immer Antidepressivum“ durchbrechen können. Immerhin 30 bis 40 Prozent der Personen, die Antidepressiva über lange Zeit einnehmen, bräuchten diese nicht mehr. Dies würde bei Jahresgesamtkosten der Antidepressiva von 640 Millionen Euro zwischen 190 und 250 Millionen Euro jährlich sparen.
Yvonne Nestoriuc plädiert für erweiterte Behandlungsleitlinien, in denen – wie in England – festgelegt ist, dass verschreibende ÄrztInnen ihre PatientInnen darüber aufklären, dass eine Absetzproblematik auftreten und auch länger andauern kann. „Wir möchten mit unserer Forschung dazu beitragen, die Informations- und Versorgungslücke für Personen mit Absetzwunsch zu schließen“, sagt Prof. Nestoriuc. „Dazu braucht es neben der sorgfältigen Aufklärung und ärztlichen Begleitung unterstützende psychotherapeutische Elemente, die helfen, Erwartungen zu optimieren und dem Nocebo-Effekt vorzubeugen.“
In einer aktuellen Absetzstudie bieten Prof. Nestoriuc und Prof. Tilo Kircher, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg, interessierten PatientInnen die Möglichkeit, ihr Antidepressivum in ärztlicher und psychologischer Begleitung abzusetzen. Das Studienteam freut sich, PatientInnen aus dem Großraum Hamburg sowie Marburg ein Absetzangebot machen zu können, und steht für Kontaktanfragen zur Verfügung (www.phea-studie.de).