Neu entdeckt: Kleinhirn spielt eine wichtige Rolle beim schmerzlindernden Placebo-Effekt

Ein Wissenschaftlerteam der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen hat zusammen mit Kooperationspartnern des Dartmouth College in New Hampshire (USA) in der größten Metaanalyse von bildgebenden Befunden zentrale Hirnregionen der Placeboanalgesie entschlüsselt. Hierüber berichtet jetzt das renommierte Fachmagazin Nature Communications.

In dem internationalen Verbundprojekt analysierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Ulrike Bingel (Klinik für Neurologie, Universitätsklinik Essen) und Prof. Tor Wager (Cognitive and Affective Neuroscience Laboratory, Hanover, USA) die fMRT Bilder von 603 Versuchsteilnehmenden aus insgesamt 20 verschiedenen Studien. Dass Placebo-Effekte Schmerzen lindern und die Wirksamkeit von Schmerzmitteln erhöhen, ist vielfach bestätigt, nur welche neuronalen Mechanismen zugrunde liegen, blieb trotz intensiver Forschungsbemühungen in verschiedenen zentralen Aspekten bislang ungeklärt. „Wir konnten nachweisen, dass der Placebo-Effekt nicht allein auf eine Unterdrückung von Schmerzimpulsen zurückzuführen ist, sondern durch neuronale Netzwerke der kognitiven und emotionalen Schmerzverarbeitung verstärkt werden muss“, erklärt Prof. Ulrike Bingel, Sprecherin des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereiches zum Einfluss von Erwartung auf die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Aktivitäten der Informations-Netzwerke im Thalamus, den Habenula-Kernen und dem anterioren cingulären Cortex untermauern: Lernprozesse, Angstregulierung, Aufmerksamkeitsteuerung, Handlungsplanung, Entscheidungsfindung und Bewertung von Schmerz sind beim Placebo-Effekt involviert.

In der aktuellen Analyse wurden auch erstmals neue Hirnstrukturen identifiziert, die zur Placeboanalgesie beitragen. Es zeigte sich, dass das Kleinhirn, vor allem mit Koordination und Bewegungsabläufen in Verbindung gebracht, eine größere Rolle als je vermutet spielen könnte. Das Kleinhirn steuert unbewusstes planerisches Handeln und erfüllt auch wichtige Funktionen bei höheren kognitiven Prozessen wie z. B. der Entscheidungsfindung. Das kann die Erwartungshaltung von Patienten gegenüber einer Therapie beeinflussen. Dass das Kleinhirn überhaupt Anteil am Placebo-Effekt hat, ist ein neuer Befund für Neurowissenschaftler.

Weitere Datenanalysen im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Treatment Expectation“ sollen einen noch spezifischeren Aufschluss über die beim Placebo-Effekt aktivierten neuronalen Netzwerke bringen. „Unser Ziel ist, in Zukunft den Einfluss der Behandlungserwartung von Patienten nutzen zu können, um die Therapie unter Berücksichtigung aller interindividuellen Unterschiede zu optimieren“ betont Prof. Ulrike Bingel.

Diese Metaanalyse zeigt auch, dass funktionelle bildgebende Verfahren des Gehirns genutzt werden können, um im Rahmen klinischer Studien die Placebo-Effekte von den Wirkungen pharmakologischer Substanzen klar zu trennen.

Die vollständige Veröffentlichung kann hier im PDF-Format heruntergeladen oder direkt auf der Webseite von nature communications gelesen werden.

Referenz:
Zunhammer M, Spisak T, Wager T, Bingel, U. Meta-analysis of neural systems underlying placebo analgesia from individual participant fMRI data, Nature Communications (2021), doi 10.1038/s41467-021-21179-3