Seit gut 200 Jahren nennt man ein Arzneimittel ohne Wirkstoff "Placebo". Doch bereits die Medizinerinnen und Mediziner der Antike wussten um die Bedeutung von Erwartungen für eine Therapie – und setzten Placeboeffekte bewusst bei Heilversuchen ein.

Geschichte der Placeboforschung: Schon in der Antike kannte der Arzt Galen den Placeboeffekt

Schon in der Antike kannten MedizinerInnen den Placeboeffekt. Der berühmte Arzt Galen von Pergamon etwa erachtete das Vertrauen von Patientinnen und Patienten in Arzneien und in ihren Arzt als wichtiger als die verabreichten Wirkstoffe an sich. Bild: Galen hält eine Vorlesung über Anatomie in Rom. Druck aus dem Buch "Vies des Savants Illustres", nachkoloriert

Placebos oder Placeboeffekte vermögen keine Erkrankungen zu heilen, können jedoch Symptome in allen physiologischen Systemen und Endorganfunktionen nachhaltig lindern.

Prof. Manfred Schedlowski, Klinische Psychologie, Universitätsmedizin Essen

Die Geschichte der Placeboforschung

„Ich werde gefallen“ ist die wörtliche Übersetzung von „placebo“ aus dem Lateinischen. Der Begriff tauchte im Spätmittelalter als Bezeichnung für Trauergäste auf, die Verstorbene gegen Bezahlung wohlwollend beklagten. Darin steckte bereits eine „So tun, als ob“-Bedeutung. In einem medizinischen Wörterbuch erschien der Begriff Placebo erstmals um 1800 – als Bezeichnung für ein als Arznei verabreichtes Mittel ohne Wirkstoff.

Ein Placebo (Scheinmedikament) bezeichnet ein Arzneimittel, das keinerlei pharmakologischen Wirkstoff enthält, z.B. eine Zuckerpille. Placebobehandlungen gibt es auch bei nicht medikamentösen Behandlungen, z.B. eine Scheinakupunktur. Allerdings hat die Forschung inzwischen zahlreiche Beweise erbracht, dass es sich keineswegs um reinen Schein handelt, wenn Placebos wirken. Was mit Beobachtungen in der medizinischen Praxis begonnen hat, ist zu einem intensiven Forschungszweig geworden, der zunehmend entschlüsselt, wie der Placeboeffekt zustande kommt und funktioniert. Die Erkenntnis der Forschung: Die Behandlungserwartung der PatientenInnen spielt eine große Rolle. Diese wird durch viele Faktoren der Behandlung und des Behandlungskontextes beeinflusst. Auch Lernvorgänge sind beteiligt. Als wissenschaftliche Disziplin ist die Placeboforschung – oder vielleicht besser: Erforschung des Behandlungserwartungseffekts – sehr jung, ihr Inhalt ist jedoch so alt wie die Medizin selbst. Die Geschichte beginnt vermutlich schon mit den ersten Heilversuchen der Menschheit.

In der Antike wurde schon der Placeboeffekt genutzt

Den Begriff Placebo kannten die MedizinerInnen der Antike natürlich nicht, den Placeboeffekt aber sehr wohl. So beschrieb der Philosoph Platon, ein Befürworter der ganzheitlichen Medizin, dass ein Heilkraut gegen Kopfschmerzen nur dann wirken könne, wenn es in Verbindung mit einem entsprechenden Spruch verabreicht würde. Bleibe der aus, wäre auch das „Blatt“ nutzlos. Erst der medizinisch wirkungslose Spruch, also ein reines Placebo, ermögliche es dem Heilkraut, die Kopfschmerzen zu vertreiben.

Der berühmte Mediziner Galen von Pergamon schrieb im 2. Jahrhundert, dass er größere Behandlungserfolge bei Kranken habe, die von ihrer Genesung überzeugt seien. Und er erachtete das Vertrauen eines Patienten* in die Arzneien und in den Arzt als wichtiger als die verabreichten Wirkstoffe an sich.

Schamanen und Medizinmänner – die Meister des Placeboeffekts

In sogenannten einfachen archaischen Gesellschaftsstrukturen und bei den meisten indigenen Völkern waren Krankheiten göttliche Strafen oder das Werk von Hexen oder bösen Zauberern. Die Behandlung erfolgte durch Medizinmänner oder Schamanen, die magische oder religiöse Riten beherrschten. PatientIn und BehandlerIn glaubten fest an die Wirkung der respekteinflößenden Rituale, die neben begrenzt wirksamen Arzneien aus der Natur zum Einsatz kamen – und bestenfalls die Selbstheilungskräfte aktivierten.

Der renommierte Placeboforscher Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School vergleicht heute etwa Heilrituale der Navajo-Indianer mit Akupunktur und schulmedizinischen Behandlungen. Was bei den Navajos die Zeremonien und Gesänge seien, wären beim Akupunkteur die Tafel mit den Nadel-Punkten, Entspannungsmusik oder Räucherstäbchen und in der Schulmedizin Diplome an der Wand und hochmoderne technische Untersuchungsgeräte. Rituale hat es in der Heilkunst immer gegeben, nur ändern sie sich eben.

Mit der Aufklärung begann die Placeboforschung

Der schottische Arzt William Cullen gilt als Schöpfer des Wortes Placebo im medizinischen Kontext. Im späten 18. Jahrhundert verabreichte er aussichtslos erkrankten PatientInnen Senfpulver als „pure placebo“, wie er es nannte. Die Salbe hielt er zwar für wirkungslos, einem Schwerkranken* mit einer vermeintlich effektiven Medizin Hoffnung zu geben dagegen für seine ärztliche Pflicht. Die Therapiemöglichkeiten waren ohnehin begrenzt, für viele Krankheiten stand damals kein effektives Heilmittel zur Verfügung.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert herum wurden die ersten Untersuchungen durchgeführt, die man im weitesten Sinn als placebokontrolliert bezeichnen kann. Sie sollten vor allem medizinische Scharlatane überführen. So etwa ein Experiment im Auftrag des französischen Königs, an dem der Forscher und spätere Staatsmann Benjamin Franklin teilnahm. Es konnte nachweisen, dass der Erfolg des populären „Mesmerismus“ oder „animalischen Magnetismus“ allein auf Ritualen beruht: magnetisiertes Wasser, beruhigende Klänge, Weihrauch und Magnete. Bei der Methode des deutschen Arztes Franz Anton Mesmer, der seine Behandlungen oft im lavendelfarbenen Seidengewand und mit goldenen Hausschuhen durchführte, sollte ein „Mesmerist“ auch aus der Ferne das unspezifische „fluid“ (die Flüssigkeit) im Körper des Patienten positiv verändern. Der Kranke spürte wohl eine Besserung, wenn er den Behandler* hinter einem Vorhang glaubte – obwohl dort niemand war.

Mehrere placebokontrollierte Studien sind im 19. Jahrhundert zur damals neuen Homöopathie dokumentiert. Sie wollten entweder einen Wirkungsnachweis für die von Samuel Hahnemann entwickelte Heilweise erbringen oder diese als Humbug entlarven. Das homöopathische Prinzip, „Gleiches mit Gleichem“ zu behandeln und dafür extrem verdünnte Substanzen zu verwenden, widersetzt sich bis heute einem naturwissenschaftlichen Wirknachweis. Die Heilkraft der Arzneien beruht möglicherweise allein auf dem Placeboeffekt. Hahnemann selbst nutzte den Placeboeffekt zwischen den nach seiner Sicht heilenden homöopathischen Gaben. So empfahl er 1814 seinen KollegInnen, den Patienten* dazwischen „etwas Unschuldiges“ (z.B. Himbeersaft oder Milchpulver) zu verabreichen, falls sie unbedingt nach einer Arznei verlangten, weil sie es von anderen ÄrztInnen so gewohnt waren.

Placebos werden zur Standard-Kontrollgröße in Wirksamkeitsstudien

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Bedeutung in der Therapie, von dem, was wir heute unter Placebobehandlung verstehen, deutlich ab, vor allem weil Ärzte* zunehmend auf effektive pharmakologische Wirkstoffe zurückgreifen konnten. Außerdem hatte sich die heute widerlegte Einschätzung durchgesetzt, dass Placebos nur gegen eingebildete Beschwerden helfen könnten.

Zunehmend relevant jedoch wurden Placebos als Kontrolle in den klinischen Studien zur Prüfung der Arzneimittel-Wirksamkeit. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die placebokontrollierten Studien zum Standard in der klinischen Forschung. Henry Knowles Beecher – Vater der modernen Erforschung der Behandlungserwartung

Der amerikanische Arzt Henry Beecher leitete im Zweiten Weltkrieg ein Lazarett für verwundete US-Soldaten. Als dort das schmerzbetäubende Morphium ausging, verabreichte er den leidenden Männern stattdessen Kochsalzlösung, welche diese aber für Morphium hielten. Was eigentlich ein Akt der Verzweiflung war, zeigte verblüffende Wirkung: Fast die Hälfte der Verwundeten, die Kochsalzlösung bekommen hatten, sagte, dass ihre Schmerzen nachgelassen hätten oder gar verschwunden seien.

Die Erfahrung mit der wirkungslosen Kochsalzlösung ließ den Mediziner an der Harvard Medical School tiefer in die Placeboerforschung einsteigen. 1955 erschien im Ärzteblatt JAMA sein Manuskript „The Powerful Placebo“. Aus der Auswertung von 15 Placebostudien zur Behandlung von Schmerzen folgerte er, dass rund 35 Prozent der ProbandInnen auf Placebos reagierten. Mit dieser Zahl wurde Beecher jahrzehntelang zitiert, obwohl spätere Forschung zeigte, dass sich eine derart pauschale Zahl nicht halten lässt. **

Meilensteine der modernen Wissenschaft

Mitte der 60er-Jahre wurde intensiv darüber diskutiert, welche Persönlichkeitsfaktoren dem Placeboeffekt zugrunde liegen und ob es gar eine Placebopersönlichkeit gebe. Letzteres ist widerlegt. Eine „Placebopersönlichkeit“ existiert ebenso wenig wie etwa eine „Krebspersönlichkeit“. Dagegen beschäftigt die Forschung bis heute die Frage, warum Menschen unterschiedlich stark auf Placebos reagieren und welche individuellen Faktoren beteiligt sind. Und hier könnten Aspekte wie Optimismus oder auch Ängstlichkeit eine Rolle spielen.

Seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts mehren sich die Hinweise, dass Placeboeffekte mit (neuro-)biologischen und physiologischen Prozessen in Gehirn und Körper einhergehen, zum Beispiel mit der Ausschüttung von körpereigenen Opioiden. Diese können Schmerzrezeptoren in unserem Körper hemmen. Was auch gezeigt wurde: Substanzen, die diese körpereigenen schmerzreduzierenden Stoffe hemmen, können die Placebowirkung stoppen. Das war ein erster Nachweis für einen möglichen neurobiologischen Mechanismus. In den 90er-Jahren entwickelten sich Placeboeffekte in der Schmerztherapie und bei Depressionen zu einem großen Thema der Forschung. Und man untersuchte zunehmend den Placeboeffekt in unterschiedlichen Therapieformen – von der Tablette bis zur Operation.

Anfang der 2000er-Jahre erlebte die Placeboforschung einen Durchbruch durch die Entwicklung bildgebender Verfahren, die Hirnaktivität sichtbar machen können. Mit der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) gelang der Nachweis, dass bestimmte Gehirnareale durch die Gabe von Placebos stärker aktiviert werden. Auch die beteiligten Neurotransmitter, also Botenstoffe, konnten so sichtbar gemacht werden: Dazu gab man den ProbandInnen in PET-Messungen z.B. Substanzen, die sich an die körpereigenen Opioid- oder Dopaminrezeptoren binden. So konnte sichtbar gemacht werden, dass der Placeboeffekt bei Schmerzen auf der Aktivierung von spezifischen Gehirnarealen und der Ausschüttung komplexer neurobiologischer Kaskaden wie der Ausschüttung von endogenen Opioiden beruht.

In einer Stellungnahme vom Juli 2010 räumte schließlich auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer dem Placeboeffekt einen besonderen Stellenwert ein: „Da der Placeboeffekt bei nahezu jeder Behandlung auftreten kann, ist es absolut notwendig und dringlich, ÄrztInnen Kenntnisse der Placeboforschung zu vermitteln, um Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen.“.

Intensive Forschungsaktivitäten

Der in den 90er-Jahren einsetzenden Studien-Boom zum Placeboeffekt, seinem Wirkmechanismus, seinem Anteil an jedweder Therapie und sein gezielter Einsatz in der medizinischen Praxis, setzt sich seit den 2010er-Jahren fort und erlebt gerade einen neuen Höhepunkt:

Die Harvard Medical School startete 2011 ihr „Program in Placebo Studies and Therapeutic Encounter“ unter Ted Kaptchuk, in Turin ist Fabrizio Benedetti eine Koryphäe der Placeboforschung, am Stockholmer Karolinska-Institut wird die Arzt-Patienten*-Beziehung erforscht, auch an den Universitäten in Dartmouth, Baltimore, Aarhus, Leiden und vielen mehr widmen sich international renommierte ForscherInnen dem Placeboeffekt. Deutschland nimmt heute einen Spitzenplatz in der Placeboforschung ein.

Bereits von 2010 bis 2021 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Forschungsgruppe 1328 „Erwartungen und Konditionierung als Basisprozesse der Placebo- und Nocebo-Reaktion: Von der Neurobiologie zur klinischen Anwendung“, die deutschlandweit die Expertise von WissenschaftlerInnen unter der Leitung von Prof. Winfried Rief aus Marburg bündelte. Hieraus entwickelte sich dann seit 2020 der Sonderforschungsbereich 289 „Treatment Expectation“ mit einem Schwerpunkt an der Universitätsmedizin Essen um die Neurologin Prof. Ulrike Bingel und den Psychologen Prof. Manfred Schedlowski. Erwartungseffekte im Bereich Schmerz und Immunsystem sind hier die Schwerpunkte, während innovative Bildgebung von Placebowirkungen bei NeurowissenschaftlerInnen um Prof. Christian Büchel am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zentrales Forschungsfeld sind. In Marburg konzentrieren sich Prof. Winfried Rief und KollegInnen auf das Thema „Erwartungseffekte in der Depressionstherapie“. Mehr als 60 WissenschaftlerInnen arbeiten im überregionalen Sonderforschungsbereich (SFB/TRR 289) „Treatment Expectation“ an allen drei Standorten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert diese Forschungsarbeit für mehrere Jahre.

Hier finden Sie eine Zusammenstellung der Projekte.

Das hat die Forschung bis heute nachgewiesen

Viele Fragen der Placeboforschung warten noch auf Klärung und belastbare Antworten. Seit die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik in den letzten Jahrzehnten Fahrt aufgenommen hat, sind aber schon viele spannende Aspekte untersucht worden. Hier eine Auswahl der wichtigen Ergebnisse:

  • Placeboeffekte sind nicht an die Gabe von Placebos geknüpft. Vielmehr begleiten und modulieren Placebo- oder besser Erwartungseffekte jede Behandlung, ob dies ein Medikament, eine Akupunktur oder eine Operation ist.
  • Placeboeffekte können zu klinisch relevanten Verbesserungen von Symptomen und Erkrankungen führen. Sehr eindrucksvoll konnte dies z.B. für das hochwirksame Schmerzmittel Remifentanil gezeigt werden: Eine positive Behandlungserwartung hat den schmerzlindernden Effekt verdoppelt, während eine negative Erwartung, gepaart mit der Sorge, der Schmerz könnte schlimmer werden, dafür gesorgt hat, dass dieses hochwirksame Medikament seine Wirkung verlor. Britische Rheumatologen* haben z.B. placebokontrollierte Studien mit Arthrose-PatientInnen analysiert und gezeigt, dass ein Placebo nicht nur die Schmerzen reduzierte, sondern auch die Funktion verbesserte und die Gelenksteifigkeit verringerte.
  • Placeboeffekte sind in allen körperlichen Systemen beschrieben. Besonders groß scheinen Placeboeffekte im Bereich Schmerz und Depression zu sein. Hier tragen sie zu einem erheblichen Anteil zum Behandlungserfolg bei. Aber auch in anderen Systemen, wie dem Magen-Darm-Trakt oder sogar dem Immunsystem, kommen Placeboeffekte vor.
  • Die treibende Kraft von Placeboeffekten ist die an die Behandlung geknüpfte Erwartung. Diese wird durch Vorerfahrungen, die PatientInnen gemacht haben, oder durch Informationen, die sie erhalten haben, und selbst durch das Beobachten von Therapieerfolgen oder Misserfolgen bei anderen PatientInnen geprägt.
  • Auch die Art der Behandlung und Rahmenbedingungen nehmen Einfluss. Der Placeboeffekt ist bei einem invasiven Eingriff größer (z.B. einer Infusion), als wenn nur eine Pille geschluckt wird. Teure Pillen bringen mehr als billige, auch die Größe und Farbe der Arznei spielen eine Rolle. Nicht nur Medikamente, sondern auch invasive Behandlungen kommen mit einer Dosis Placeboeffekt daher. In einem Experiment in Houston wurden 120 PatientInnen mit Knie-Arthrose operiert, 60 erhielten dabei nur oberflächliche Schnitte auf der Haut und keine echte Operation. Nach zwei Jahren waren 90 Prozent der PatientInnen beider Gruppen mit der Operation zufrieden. Einziger Unterschied war, dass die Nichtoperierten sogar weniger Schmerzen verspürten als ihre Kontrollgruppe.
  • Eine zugewandte Kommunikation und ein Vertrauensverhältnis zwischen PatientIn und BehandlerIn kann die Placebowirkung verstärken. Reizdarm-PatientInnen fühlten sich am besten, nachdem sie eine Scheinakupunktur mit empathischer Gesprächsbegleitung erhalten hatten. Die wortlose Scheinakupunktur brachte signifikant weniger Besserung, aber doch deutlich mehr als die reine Untersuchung. Zu diesem Ergebnis kam eine randomisierte Studie an der Harvard Medical School.
  • Placeboeffekte sind weder eingebildet noch ausschließlich auf der psychologischen Ebene zu beschreiben. Im Gehirn löst die Erwartung von Besserung oder Heilung eine komplexe neurobiologische Kaskade aus. So schüttet das Gehirn etwa schmerzlindernde Opioide aus, wenn der Patient* vermeintlich ein Schmerzmittel bekommen hat.
  • Nicht nur subjektive Symptome wie Schmerzen, Depression und chronische Müdigkeit (Fatigue) sprechen auf Placebo- und Erwartungseffekte an. Auch die Atmung, der Magen, die Darmbewegungen bis hin zum Immunsystem werden beeinflusst. In einer Studie mit Bluthochdruck-PatientInnen zeigte sich, dass ein Scheinmedikament systolische und diastolische Blutdruckwerte senkte. Wie unterschiedlich stark Placeboeffekte auf subjektive Symptome und objektivierbare physiologische Vorgänge einwirken, ist Gegenstand derzeitiger systematischer Untersuchungen. Auch welche neurobiologischen und peripher-physiologischen Mechanismen diesen Effekten zugrunde liegen, ist jenseits der schon überzeugenden Befunde im Bereich des Schmerzes unklar.

Aktuelles Thema „Open-Label-Placebo“: Wenn PatientInnen wissen, dass sie keinen Wirkstoff erhalten

Die längste Zeit glaubte man, dass ein Placebo nur wirken kann, wenn die Behandelten glaubten, das echte Medikament bekommen zu haben. Deswegen werden zu Forschungszwecken auch in der Wissenschaft oft sogenannte verdeckte Placebos gegeben, die als echte Medikamente präsentiert werden. Aber: Placebos wirken auch dann, wenn PatientInnen wissen, dass sie ein Medikament ohne Wirkstoff erhalten. In sogenannten Open-Label-Placebostudien besserten sich die Schmerzen von Rücken-, Migräne- und Reizdarm-PatientInnen deutlich, obwohl diese PatientInnen wussten, dass sie Placebos einnahmen. Dennoch kann allein das Schlucken einer Tablette die symptomlindernde Kaskade aktivieren, so die Vermutung. Allerdings: Welche Mechanismen genau dem Open-Label-Placeboeffekt zugrunde liegen, muss erst noch geklärt werden. Diskutiert werden insbesondere unbewusste Erwartungs- und Lernvorgänge. Folgende Studie könnte dazu neue Erkenntnisse bringen: Link.

Zukunftsaufgabe: Den Erwartungseffekt in die Praxis bringen

Wie kann man Placeboeffekte so nutzen, dass Arzneien ihr ganzes Potenzial entfalten? Wie können ÄrztInnen über Kommunikation und Erwartungsmanagement PatientInnen so steuern, dass deren Therapie besser verläuft? Warum sprechen manche PatientInnen gut auf Placebos an, andere dagegen gar nicht? Welche Rolle spielen kulturelle und soziale Faktoren? – Noch sind viele wissenschaftliche Fragen zum Placeboeffekt ungeklärt. Sie zu beantworten ist die Aufgabe der Forschung von heute und morgen und besonders im Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“.

**Jedoch nicht deswegen fällt heute ein Schatten auf die moralische Integrität des ehemaligen Harvard-Professors. KritikerInnen werfen ihm vielmehr vor, im Nachkriegsdeutschland an Menschenversuchen der CIA beteiligt gewesen zu sein. Es ging um Experimente mit psychoaktiven Substanzen wie LSD und Mescalin. Dafür arbeitete er auch mit einem deutschen Arzt zusammen, der während der Nazizeit an Menschenversuchen in Konzentrationslagern beteiligt war.

Quellen:

U. Bingel, M. Schedlowsi, H. Kessler: Placebo 2.0 – Die Macht der Erwartung. Rüffer & Rub, Zürich 2019

Placebo in der Medizin. Hrsg. von der Bundesärztekammer. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2011

C. Guijarro: A History of the Placebo. In: Neuroscience and History, 2015

R. Jütte: The early history of the placebo. In: Complementary Therapies in Medicine, April 2013

M. Breidert, K. Hofbauer: Placebo – Missverständnisse und Vorurteile. In: Deutsches Ärzteblatt, November 2009

Die Macht der Erwartung: Wie Placebo und Nocebo funktionieren. In: Zeit Online, 13.1.2021

M. McKechneay: Die Kraft des Nichts. In: Impuls Wissen, Wiener Städtische 2021

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.