Gehirn & Geist

Gehirn & Geist - Spektrum-Verlag

Das nachfolgende Interview von Steve Ayan mit Prof. Winfried Rief erschien im Juni 2023 in der Zeitschrift Gehirn & Geist vom Spektrum-Verlag. Sie können die vollständige Version hier nachträglich erhalten.

GuG Placeboeffekt ist besser als sein Ruf 06Herr Professor Rief, wie kamen Sie dazu, die Rolle der Erwartungen in der Psychotherapie zu ergründen?
Das begann 2004 bei einem Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School in Boston. Ich war damals ohne Impfausweis in die USA gereist, brauchte den aber, um an der Klinik zu arbeiten. In den fünf Wochen, die es dauerte, den Nachweis zu besorgen, saß ich stattdessen in der Bibliothek und analysierte Daten aus Arbeiten zum Nocebo- und Placeboeffekt. Es faszinierte mich, wie viel von der bloßen Überzeugung der Behandelten abhängt. Etwa bei Antidepressiva: Vergleicht man die Krankheitsverläufe von depressiven Menschen, die so ein Medikament erhielten, mit denen von Leuten, die ein wirkstofffreies Scheinpräparat schluckten, dann berichten Letztere im Schnitt von einer beinahe ebenso starken Besserung: Gut 70 Prozent der Wirkung gehen darauf zurück, dass die Menschen erwarten, die Pillen werden ihnen helfen.

Auf solche selbsterfüllenden Prophezeiungen in der Medizin und Psychotherapie hinzuweisen, wird von manchen sicher kritisch beäugt – hatten Sie keine Angst, als »Nestbeschmutzer« zu gelten, der die Wirksamkeit der Mittel selbst anzweifelt?

Ja, es gab und gibt durchaus solche Vorbehalte. Aber zunächst einmal finde ich: Heilung ist Heilung, gleichgültig worauf sie zurückgeht. Wenn ich plötzlich keine Schmerzen oder Traurigkeit mehr spüre, ist doch ziemlich egal, ob das nun vom Therapeutikum kommt, eine Spontanheilung zurückgeht oder auf meine persönliche Hoffnung. Außerdem sind Placeboeffekte ja nicht einfach nur da oder nicht, sondern sie lassen sich nutzen und stimulieren – zum Wohl der Patienten.

In der somatischen Medizin fällt die Trennung zwischen dem so genannten Verum, wie einem bestimmten Wirkstoff, und der Scheinbehandlung meistens leicht. Lässt sich das so einfach auf die Psychotherapie übertragen? Wie unterscheidet man, ob ein Gespräch, eine persönliche Begegnung nun therapeutisch oder bloß alltäglich ist?

Darin steckt ein wichtiger Punkt: Man darf sich die Placebowirkung nicht als völlig unabhängig von anderen Wirkfaktoren vorstellen, seien es nun allgemeine oder therapiespezifische. Die Annahme, etwas werde mir helfen, hat natürlich viel damit zu tun, wie dieses etwas daherkommt, wie es mir als Patient vermittelt wird. In Studien vergleicht man in der Regel verschiedene Gruppen miteinander, die in ihren Symptomen und in anderer Hinsicht wie Geschlecht, Alter und so weiter möglichst homogen sind. Eine davon wird zunächst gar nicht behandelt, während die andere einfach nur menschliche Zuwendung erfährt und wieder eine andere nach den Regeln eines etablierten Behandlungskonzepts therapiert wird. Geht es den Probanden in der letzten Gruppe nicht viel oder nicht dauerhafter besser als dem Rest, so ist der Anteil der Erwartungshaltung groß.

Trotzdem lassen sich die Einzelfaktoren nicht einfach zur Gesamtwirkung einer Behandlung aufaddieren, richtig? 

Genau. Früher sprach man allgemein von unspezifischen Effekten, wenn es um Dinge ging, die fast allen Therapieansätzen gemeinsam waren: Zuwendung, Empathie, soziale Unterstützung und so weiter. Oft wurde auch die Placebowirkung darunter subsumiert, dabei kann diese durchaus sehr spezifisch auftreten. Beispielsweise dann, wenn mich eine bestimmte therapeutische Haltung besonders anspricht, weil ich den Betreffenden als kompetent erlebe. Das muss aber nicht unabhängig von der Behandlung sein, sondern kann mit dieser in Wechselwirkung stehen.

Das bringt uns zu der Frage, durch welche Signale sich heilungsfördernde Erwartungen stimulieren lassen.

Wir betrachten dabei vor allem zwei Dimensionen: menschliche Wärme und Kompetenz. In unseren Studien hat sich gezeigt, dass Therapeutinnen und Therapeuten, die diese beiden Eigenschaften überzeugend herüberbringen, im Schnitt erfolgreicher arbeiten. Das gelingt häufig, indem man Erwartungen, Hoffnungen und Ängste offen und aktiv anspricht, verschiedene Therapieoptionen, aber auch Grenzen aufzeigt, und indem man glaubhaft macht, dass man selbst schwierige Momente gemeinsam meistern wird.

Was kennzeichnet eine gute »therapeutische Beziehung «? Dabei denkt man schnell an Sympathie, Freundschaft, gemeinsame Interessen. Doch ist eine Therapie nicht oft auch unangenehm, in gewissem Grad sogar ein Gegeneinander?

Wenn man an Freuds Konzept des Widerstands denkt, den es beim Patienten zu überwinden gelte, sicher. Heute sieht man das meist nicht ganz so kritisch. Ohne Frage gibt es im Verlauf einer Therapie häufig den Punkt, wo der Patient sich unsicher oder unwohl fühlt, wo es ihm Angst macht, sich mit bestimmten Fragen zu beschäftigen. Wenn es dennoch therapeutisch sinnvoll erscheint, muss man demjenigen einen gewissen Rückhalt geben. Es geht weniger um Sympathie als um eine Allianz, eine stabile Grundlage, um gemeinsam zu arbeiten und die Flinte nicht gleich ins Korn werfen, sobald es knifflig wird.

Klassischerweise gehen viele Therapieansätze von einer Theorie der Psyche oder der Entstehung von Krankheit aus und leiten davon bestimmte Maßnahmen ab. Schon Freud sprach vom »Junktim zwischen Theorie und Praxis«. Dienen solche Ideen- und Lehrgebäude letztlich nur dazu, Kompetenz auszustrahlen?

Sicher nicht nur, das hieße, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Ich würde eher umgekehrt fragen: Glauben wir ernsthaft, dass es zig Therapieschulen gibt, die alle funktionieren, obwohl sie teils konträre Behauptungen aufstellen und so tun, als hätten sie nichts miteinander zu tun? Nein, wir sollten zwischen der Ideologie auf der einen Seite und den Behandlungstechniken auf der anderen unterscheiden. In der Wissenschaft gehen wir inzwischen von einer begrenzten Zahl an Wirkmechanismen aus, die vielen bewährten Therapien gemeinsam sind. Einen davon bezeichnet man als Einsicht: Menschen brauchen eine sinnvolle, plausible Erklärung dafür, wie es ihnen geht und was ihnen hilft. Die Ironie dabei ist, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob diese Erklärung wirklich zutrifft. Auch Annahmen, die aus Forschungssicht wenig für sich haben, können heilsam sein.

Mir fällt da Deutschlands derzeit wohl bekannteste Psychotherapeutin ein, die Bestsellerautorin Stefanie Stahl – die mit dem »inneren Kind«. Selbst wenn das nur eine schön klingende Metapher ist, sollte ich diese Geschichte besser glauben, um im Alltag davon zu profitieren?

Mit dem Sollen ist das so eine Sache, das kann man sich ja schlecht vornehmen. Aber im Prinzip gilt: Ein entlastendes, therapeutisch wirksames Narrativ muss nicht wissenschaftlich State of the Art sein. Allerdings gibt es irgendwo auch eine Grenze, wenn man absolut haltlose Ansichten verbreitet, die der Erkenntnis und Gesundung womöglich eher im Weg stehen. Denken Sie an die Homöopathie. Die ist rational nicht zu begründen, obwohl sie sehr beliebt ist.

Apropos: Manche Menschen könnten den Eindruck haben, Forscher wollten ihnen ihr persönliches Empfinden gewissermaßen ausreden. Die sagen sich »Ich merke doch, dass mir Globuli helfen, ich brauche keine Wissenschaft dafür«. Was antworten Sie dann?

Wunderbar, Glückwunsch! Dennoch ist die Theorie hinter der Globuliwirkung schlicht unhaltbar. Ich will natürlich niemandem sein gutes Gefühl nehmen. Ich finde es nur eine sinnvolle ethische Maxime, Menschen nicht eine völlig unbegründete Methode als heilsam zu verkaufen, selbst wenn man es vielleicht in guter Absicht tut. Eine tatsächliche Therapie könnte, je nach Problemlage, wirksamer und nachhaltiger sein. Patienten absichtlich zu täuschen, ist kein Weg.

Kommen wir zurück zu den Wirkmechanismen der Psychotherapie – welche zählen noch dazu?

Ein aus meiner Sicht ganz zentraler Faktor ist das Verletzen von Erwartungen. Die meisten psychischen Störungen gehen mit eingeschränkten, festgefahrenen Sichtweisen einher: Die Betroffenen glauben etwa, niemand wolle etwas von ihnen wissen, sie würden ganz bestimmt versagen, oder sie bekommen in gewissen Situationen panische Angst und katastrophisieren. Hier wirkt Psychotherapie, indem sie solche dysfunktionalen Erwartungen in passender Dosierung verletzt. Neben der Einsicht – »Das ist ja gar nicht so, wie ich dachte« – geht es darum, die Alternative konkret zu erfahren, also zu spüren, dass man die Angst oder eine Situation bewältigen kann. Aus dieser Erfahrung erwachsen dann weitere Veränderungen. 

Bereits 1936 zitierte der Psychologe Saul Rosenzweig in einem Artikel über Psychotherapie das Dodo-Verdikt – nach jenem Vogel aus »Alice im Wunderland «, der nach einem Wettrennen verkündet: Alle haben gewonnen und jeder hat einen Preis verdient! Haben wirklich alle Therapieschulen einen Preis verdient, oder kommt es je nach Störung und Fall doch auf das richtige Verfahren an?

Ich glaube, was zählt, ist eher die persönliche Passung mit dem Behandler sowie das Auslösen von Wirkmechanismen als die Schulrichtung, in der man seine Therapieausbildung gemacht hat. Empirisch finden wir bei vielen Störungen – gerade zum Beispiel bei den verbreiteten Depressionen – zwischen den verschiedenen Therapieansätzen kaum Unterschiede in der Effektivität. Es
kommt stärker auf die erwähnte Allianz an, auf das Kompetenzerleben und die Unterstützung, damit man sich neuen Erfahrungen stellt, als darauf, ob die behandelnde Person nun aus der tiefenpsychologischen, systemischen oder verhaltenstherapeutischen Ecke kommt.

Was bedeutet das für praktizierende und angehende Psychotherapeuten – weniger Theorie, mehr Kundenorientierung?

Grundsätzlich müssen Therapeuten viele Techniken und Kompetenzen erwerben, um dann an den passenden Stellschrauben zu drehen. Dabei muss man die individuelle Störung, aber auch die Lebenssituation und Persönlichkeit des Patienten beachten. Entscheidend ist, nicht die Schulmeinung in den Vordergrund zu stellen, sondern die Probleme des jeweiligen Menschen. Sonst stülpt man diesem unter Umständen nur eine Theorie über. Wichtig ist zudem noch, Vertrauen und positive Erwartungen an eine Therapie zu fördern. 

In Lehrwerken heißt es in dieser Hinsicht meist, Therapeuten sollten authentisch, transparent und realistisch auftreten. Wird das aber nicht schnell als mangelnde Kompetenz ausgelegt? Wenn man sagt, »Ich weiß nicht, ob Ihnen das hilft, wir probieren es halt mal«, erweckt das doch wenig Vertrauen, oder?

Es gab vor Jahren Aufsehen erregende Studien von Ted Kaptchuk und Kollegen, die zeigten, dass Placebos sogar dann wirken, wenn auf der Packung steht: »Placebo, enthält keinen Wirkstoff«. Allerdings muss man schon sagen, dass die Wirkung bei solchen offenen Placebos schwächer ausfällt. Zudem hat Kaptchuk den Teilnehmern gegenüber durchaus betont, dass das zwar ein Placebo ist, man jedoch nach Lage der Forschung trotzdem davon ausgehen kann, dass es helfen wird. Man hat also trotzdem den Glauben an die Wirkung des Scheinpräparats stimuliert. Vielleicht wäre das ein Weg für die Patientenaufklärung: »Wir wissen, dass auch Einsicht und Hoffnung wohltuend wirken, also lassen Sie uns positiv darangehen.« Der Placeboeffekt ist besser als sein Ruf.

Aber realistisch zu sein, hieße das nicht auch zu erklären, dass Psychotherapie nur bei etwa jedem Zweiten anschlägt und dass in rund zehn Prozent der Fälle unerwünschte Nebenwirkungen auftreten? Fährt man mit »Ich weiß genau, was Ihnen fehlt, bei mir sind Sie goldrichtig« nicht doch besser?

Für den Heilungsprozess ist es wichtig, dass man den Erklärungen vertraut, dass sie Sinn und Kohärenz vermitteln. Natürlich kann eine gewisse Selbstsicherheit seitens des Therapeuten das unterstützen; er sollte jedenfalls nicht fahrig oder hilflos wirken. Allerdings lassen Wärme und Kompetenz durchaus auch Raum für eigene Zweifel und Fragen. Ich halte wenig davon, sich in der Therapie als Guru zu gebärden.

Schmälert das Wissen, dass die jeweilige Theorie und das Menschenbild keinen so großen Unterschied machen, die Placebowirkung? Anders gefragt: Steht zu viel kritisches Bewusstsein dem Behandlungserfolg im Weg? 

Zunächst einmal ist es ja so, dass viele Menschen ohnehin sehr skeptisch gegenüber den »Seelenklempnern« sind; sie können sich kaum vorstellen, dass das überhaupt etwas bringt. Tatsächlich ist Psychotherapie jedoch hochwirksam. Viele machen in ihr zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie aus alten Mustern ausbrechen können. Das ist ein gemeinsamer Nenner der meisten Verfahren: Veränderungen anstoßen, indem man neue Erfahrungen macht. Die drei großen Bausteine sind: Unterstützung erfahren, Einsichten gewinnen und neue Denk- und Verhaltensweisen einüben.

Was muss sich aus Ihrer Sicht in der Ausbildung zum Psychotherapeuten verbessern?

Wir müssen noch mehr vom alten Schulendenken wegkommen. Wissenschaftlich hat sich das schon lange überholt, jeder ernst zu nehmende Therapieforscher denkt in Störungs- und Wirkmechanismen. Nur ist die Ausbildung bislang immer noch an Institute gebunden, die nach Verfahren und Schulen organisiert sind. Hier bietet die Verlagerung an Universitäten durch das Psychotherapiestudium die Chance, eine breite, evidenzbasierte Ausbildung zu etablieren, die sich aus allen Verfahren bedient. Die Ausbildung muss sich mehr auf Mechanismen und Wirkfaktoren stützen, die wissenschaftlich belegt sind, als auf eine orthodoxe Lehrmeinung.

Bieten Etiketten wie »Psychoanalyse«, »Verhaltenstherapie « oder »systemische Therapie« nicht auch eine wichtige Orientierung für Patienten?

Ich glaube, wir bürden den Betroffenen damit zu viel auf. Wenn Sie zum Arzt gehen, weil Sie ein Druckgefühl in der Brust haben oder weil es Sie irgendwo schmerzt, verlangt doch auch niemand, dass Sie selbst auswählen und entscheiden, welche Behandlung die richtige für Sie ist. Sie erwarten zu Recht, dass Fachleute auf Grund ihrer Ausbildung und Erfahrung beurteilen können, was zu tun ist. Nur in der Psychotherapie schieben wir den Patienten selbst die Verantwortung zu, die passende Therapie zu finden. Das ist eines der Grundprobleme mit der in Deutschland immer noch vorherrschenden Ausrichtung an den so genannten Richtlinienverfahren. Außerdem sind die meisten Definitionen und Beschreibungen einzelner Therapieverfahren total überholt, die haben mit der Behandlungsrealität nicht mehr viel zu tun und führen Patienten mehr in die Irre, als dass sie aufklären.

In der öffentlichen Debatte ist oft vom Mangel an Psychotherapieplätzen die Rede. Haben wir es mit einer Unter- oder eher mit einer Fehlversorgung der Bevölkerung zu tun?

Vertreter der Krankenkassen weisen häufig darauf hin, dass es in kaum einem anderen Land so viele öffentlich finanzierte Psychotherapeuten pro Einwohner gibt wie bei uns. Aber Psychotherapie ist hier zu Lande immer noch eng an den sozioökonomischen Status geknüpft: Menschen mit mittleren und hohen Einkommen gehen zur Therapie, die anderen bekommen höchstens ein Medikament verschrieben. Außerdem haben wir sicherlich zu wenig kultursensible Therapie, die auf Besonderheiten von Menschen aus anderen Kulturen eingeht, aber auch andere Gruppen berücksichtigt, zum Beispiel Behandlung für Menschen mit Behinderungen oder für Senioren. Schwer Betroffene mit geringer Krankheitseinsicht kommen ebenfalls kaum in den Genuss von Psychotherapie, obwohl sie die oft nötig hätten. Es gibt also noch viel zu tun, damit es ausreichend passende Angebote gibt.

Die Fragen stellte »Gehirn&Geist«-Redakteur Steve Ayan.

 

Quellen:
Kaptchuk, T. J., Miller, F. G.: Open label placebo: Can honestly prescribed placebos evoke meaningful therapeutic benefits? British Medical Journal 363, 2018
Pfammatter, M., Tschacher, W.: Wirkfaktoren der Psychotherapie – eine Übersicht und Standortbestimmung. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 1/2012
Seewald, A., Rief, W.: How to change negative outcome expectations in psychotherapy? The role of the therapist’s warmth and competence. Clinical Psychological Science 11, 2023