Vor jedem Besuch beim Arzt oder der Ärztin haben wir Erwartungen. Diese sollten wir uns bewusst machen – denn sie beeinflussen das Ergebnis der Behandlung

Ärztin und Patient

Jeder Patient und jede Patientin hat Erwartungen. Sie pendeln zwischen Hoffnung und Furcht. Wie positiv oder negativ diese sind, ist zu einem großen Teil geprägt durch Erfahrungen, die wir gemacht und uns gemerkt haben.

Wir sollten als Patienten sehr ehrlich sein. Ich kann nicht sofort einem neuen Arzt vertrauen, und das muss ich auch sagen dürfen, aber einem neuen Arzt offen gegenübertreten.

Heike Norda, Vorsitzende der unabhängigen Vereinigung aktiver Schmerzpatienten in Deutschland SchmerzLOS e.V. in Neumünster

Ein ausführliches Interview mit Heike Norda lesen Sie hier.

Was sind meine Erwartungen vor dem Besuch beim Arzt oder der Ärztin?

Es gibt viele Gründe, eine ärztliche Praxis aufzusuchen. Entsprechend unterschiedlich sind die Erwartungen, die mit dem Besuch verbunden sind. Der eine Patient benötigt nur schnell ein Rezept und erwarten, dass Sie nicht lange warten müssen. Eine andere Patientin mag davon ausgehen, dass der Behandler sie ihre lange Krankengeschichte erzählen lässt und sie dann von Kopf bis Fuß durchcheckt. Manche wollen vor allem beruhigt, andere über jedes Detail der Diagnose aufgeklärt werden. Und natürlich erwartet jeder, dass der Termin in der Praxis oder Ambulanz hilfreich ist und die Beschwerden lindert.

Wir haben, wie in jedem anderen Bereich auch, immer Erwartungen – im Supermarkt erwarten Sie auch den Joghurt zu finden, den Sie gerne mögen und den Sie dort schon oft gekauft haben. Meistens sind uns diese Erwartungen aber nicht so bewusst. Ganz vergleichbar betreten Sie auch eine Arztpraxis.

Während ein Wunsch auch unrealistische Ziele umfassen kann, sollten sich Erwartungen auf etwas wirklich Mögliches beziehen. Wenn Sie z.B. davon ausgehen, dass eine einzige Spritze Ihre wochenlangen Rückenschmerzen für immer verschwinden lässt, ist dies womöglich eine eher unrealistische Hoffnung.

Zu Recht dürfen Sie in einer Praxis ganz pragmatische Dinge erwarten:

  • Wer einen Termin hat, geht davon aus, nicht stundenlang warten zu müssen.
  • Patientinnen und Patienten erwarten, vom Personal in der Praxis freundlich und respektvoll behandelt zu werden.
  • Vom Arzt und der Ärztin dürfen Patientinnen und Patienten erwarten, dass ihnen im Sprechzimmer die ganze Aufmerksamkeit zuteil wird.
  • Sie dürfen Kompetenz und Know-how bezüglich der Linderung ihrer Beschwerden erwarten.

Unsere Erwartungen entstehen bereits im Vorfeld des Termins

Erwartungen von Patientinnen und Patienten an den Besuch in der Arztpraxis sind oftmals komplex und haben noch andere, weniger offensichtliche Dimensionen. Vor allem werden sie durch vielfältige Dinge geprägt und geformt:

  • Sie basieren auf Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit mit Ärztinnen und Ärzten gemacht haben, auf der generellen Einstellung zu medizinischen Prozeduren und auch auf der individuellen Persönlichkeit.
  • Auch die Erfahrungen und Erzählungen von Familienmitgliedern oder guten Freunden spielen eine Rolle für unsere Erwartungshaltung vor dem Besuch in der Praxis oder Ambulanz.
  • Und dann lesen und hören wir natürlich noch in den Medien über Symptome, Therapien und Nebenwirkungen.

Was passiert dabei in unserem Gehirn?

Unser Gehirn verarbeitet all diese Informationen und verknüpft sie mit unseren Erinnerungen. Da trägt zum Beispiel die Ärztin die gleiche auffällige rote Brille wie die Ärztin vor zwei Jahren in der Notaufnahme, als die Rückenschmerzen allzu unerträglich wurden. Hatte die Ärztin uns geholfen und wir haben sie als sympathisch in Erinnerung, ist es gut möglich, dass wir auch der neuen Ärztin nach dem Umzug in eine andere Stadt offen und positiv gegenüberstehen. Von solchen – eigentlich unerheblichen – Details kann unsere Erwartung manchmal gesteuert sein. Ohne, dass wir das bewusst wahrnehmen.

Erwartungen sind ein komplexes Phänomen

Manche Erwartungen sind uns kaum bewusst. Wir können selten konkret begründen, warum uns z.B. eine Therapeutin spontan nicht vertrauenswürdig erscheint. Wir realisieren nicht, dass es vielleicht nur der Dialekt ist, den wir mit unangenehmen Erinnerungen verknüpfen, die absolut gar nichts mit den aktuellen medizinischen Fragestellungen zu tun haben. Es ist aber auch möglich, dass wir erwartet haben, sehr konkrete Resultate in der Konsultation zu hören. Und wenn dies der Arzt oder die Ärztin nicht leisten kann – aus welchen Gründen auch immer –, sind wir enttäuscht. Und das ist unabhängig davon, wie berechtigt unsere Erwartungshaltung war.

Erwartungen spielen bei jeder medizinischen Behandlung mit und beeinflussen das Ergebnis

Forschende wissen schon lange, dass Erwartungen körperliche Symptome, den Verlauf einer Erkrankung und den Erfolg einer Therapie beeinflussen können: Wenn ein Kopfschmerzpatient durch eine Tablette schon Linderung verspürt, bevor der Wirkstoff in den Blutkreislauf gelangt sein kann, stammt der Effekt wahrscheinlich zum Großteil von der erlernten Erwartung, dass Schmerztabletten eben Schmerzen stillen. Solches Wissen aufgrund früherer Erfahrung kann die körpereigene Apotheke aktivieren und so die Symptome lindern. Das nennen Forschende Placebo- oder auch Erwartungseffekt. Und dieser setzt eine Kaskade von Reaktionen in Gehirn und Körper in Gang.

Nocebo: Auch negative Erwartungen haben einen Einfluss

Hat ein Patient mit einer Therapie bereits negative Erfahrungen gemacht, kann die an die Behandlung geknüpfte Erwartung eine negative Wirkung entwickeln, die den Behandlungserfolg mindert. Dies können z.B. unerwünschte Nebenwirkungen sein, weil wir von unserem Nachbarn gehört haben, dass das Medikament bei ihm nicht gut verträglich war. Diese negative Erwartung („Die Nebenwirkungen treten sicher auch bei mir auf!“) provoziert einen sogenannten Noceboeffekt. Genau deshalb ist es so wichtig, dass Sie Ihre Ängste und Bedenken auch gegenüber dem Arzt oder der Ärztin ansprechen. Nur so besteht die Chance, in einem vertrauensvollen Gespräch vielleicht Missverständnisse auszuräumen und Ängste abzubauen. Lesen Sie dazu auch die folgenden Beiträge:

„Wie bereite ich mich auf einen Arztbesuch vor?“

„Was ein Arzt oder eine Ärztin von mir wissen sollte“.

Eine positive Erwartung erhöht die Chance auf eine erfolgreiche Behandlung

Wer aber an eine Therapie glaubt und sich viel davon erhofft, kann stärker von ihr profitieren als jemand, der sich wenig davon verspricht. Kommt zur positiven Erwartung an eine wirksame Therapie noch die Zuwendung einer empathischen Behandlungsperson, tritt die bestmögliche Wirkung ein.

Es ist also wichtig, in sich hineinzuhorchen, um zu verstehen, mit welchen Erwartungen oder gar Vorurteilen wir zum Arzt oder zur Ärztin oder auch einem Physiotherapeuten oder Psychotherapeutin gehen – und wie wir die Person und ihre Therapievorschläge beurteilen. Nur so ist es möglich, nicht hilfreiche Erwartungen zu korrigieren und den negativen Einfluss von Ängsten und Sorgen zu mindern, sodass Ihre Behandlung bestmöglich von den Effekten der positiven Erwartung und Ihrer körpereigenen Apotheke profitieren kann.

Unsere Bitte

Erzählen Sie uns Ihre persönliche Geschichte mit dem Placeboeffekt! Medizin lebt auch von Erzählungen. Deshalb sammeln wir für den Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“ die vielfältigen Erfahrungen von PatientInnen mit ihren eigenen Erwartungen. Näheres erfahren Sie hier.

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.