Beipackzettel enthalten viele wichtige Informationen. Aber nicht alle sind leicht verständlich – und einige fehlen auch ganz. Auf diese Weise wecken die Texte bei den meisten Menschen Hoffnungen und Befürchtungen. Allein dadurch können Beipackzettel schon Auswirkungen auf die Therapie haben.

Beipackzettel

Für Laien sind Beipackzettel oft schwer verständlich. Das löst bei vielen negative Erwartungseffekte aus – und erschwert dadurch die Therapie

Machen Sie sich ganz bewusst, was das Ziel der Behandlung ist und wofür Ihr Arzt oder Ihre Ärztin Ihnen das Medikament verschrieben hat.

Prof. Winfried Rief, Leiter der Klinischen Psychologie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Marburg

Wie lese ich einen Beipackzettel richtig?

Jeder Medikamentenpackung, die Sie – meist in der Apotheke – erhalten, liegt der sogenannte Beipackzettel bei. Das gilt auch für Präparate, die Sie freiverkäuflich ohne Rezept erhalten. Es ist ein klein gefaltetes, langes und meist eng beschriebenes Papier mit wichtigen Gebrauchsinformationen Ihres Medikaments. Sie als Patientin oder Patient sind aufgefordert, all diese Informationen sorgfältig zu lesen. Ganz wichtig ist: Lassen Sie sich von all den vielen Informationen nicht verunsichern! Sie entscheiden, was Sie unbedingt an praktischen Details wissen müssen und wie Sie die Informationen für sich persönlich bewerten.

Was Sie wahrscheinlich noch nicht über den Inhalt des Beipackzettels wussten

Wichtig zu wissen: Beipackzettel beschreiben nicht die positiven und gewünschten Effekte von Medikamenten. Drei Punkte sind dabei erstaunlich:

  1. Es fehlen positive Informationen.
    Sie suchen vergeblich nach klaren Informationen, bei wieviel Prozent derjenigen, die das Medikament einnehmen, mit einer Besserung der Symptome zu rechnen ist. Sie suchen auch vergeblich nach genauen Erklärungen über den Mechanismus, der die erwünschten Effekte des Medikaments bewirkt. Und Sie suchen vergeblich nach exakten Hinweisen, wann mit einer Linderung zu rechnen ist. Dadurch erfahren Sie nur wenig über den Nutzen einer indizierten Medikamenteneinnahme: etwa die Genesung von Beschwerden oder eine Behandlung, die verhindert, dass später viel weitreichendere Maßnahmen notwendig werden. Dass sich eine Depression durch die Einnahme von Antidepressiva bessern kann, dass Fiebersenker das Allgemeinbefinden bei einer Grippe steigern, dass sich das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung stark verringert, wenn man den Blutdruck senkt: Soche positiven Dinge lesen Sie in Beipackzetteln nicht.

  2. Nebenwirkungen, die im Beipackzettel aufgeführt sind, haben nicht zwingend mit dem Medikament zu tun.
    Wenn Sie unter dem Begriff „Nebenwirklungen” lesen, dass bestimmte unerwünschte Wirkungen „sehr häufig” auftreten, heißt das nicht, dass sie wirklich im Zusammenhang mit dem Medikament stehen. Das klingt verwirrend? Ist es auch, argumentiert Prof. Winfried Rief von der Universitätsklinik in Marburg, deswegen möchten wir das hier genauer erklären. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass alle Nebenwirkungen, die z.B. in klinischen Studien (siehe Glossar) aufgetreten sind, aufgelistet werden – auch dann, wenn nicht geprüft ist, ob diese wirklich auf das Medikament zurückzuführen sind. (Lesen Sie dazu auch den Beitrag: „Was sind unerwünschte Wirkungen?") Alle potenziell möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten (z.B. Übelkeit, Kopfschmerzen oder eine Hautreaktion) müssen nach den strengen arzneimittelrechtlichen Bestimmungen im Beipackzettel des Arzneimittels erwähnt sein. Das ist erstmal gut und im Sinne der Sicherheit für die Patienten. Aber der Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Häufigkeiten im Beipackzettel ist leider häufig missverständlich oder verwirrend, wenn man sich nicht intensiv mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten beschäftigt. Im normalen Sprachgebrauch bewerten wir Prozentzahlen bei Wahrscheinlichkeiten intuitiv anders. Deshalb sind hier Erklärungen dringend notwendig.

  3. Häufig ist nicht gleich häufig.
    Wie können PatientInnen besser verstehen, was angegebene Wahrscheinlichkeiten im Beipackzettel wirklich bedeuten? Wenn Sie diese Informationen lesen, sollte klar sein: Eine „sehr häufige“ Nebenwirkung bedeutet, dass neun von zehn, also die allermeisten Behandelten, das Medikament gut vertragen. Das ist ganz wichtig, denn nicht nur positive, sondern auch negative Erwartungen können Ihre Behandlung beeinflussen. Klinisch ist dieser Noceboeffekt durchaus höchst bedeutend und genau deshalb ist der Beipackzettel gerade im Bereich der Placeboforschung, wo es ja genau um diese Erwartungseffekte geht, besonders interessant.

Die Angabe darüber, wie wahrscheinlich eine unerwünschte Wirkung auftritt, ist gesetzlich so vorgegeben:

Sehr häufig bedeutet: über 10 %, also mehr als einer von zehn Behandelten.

Häufig bedeutet: 1 bis 10 %, also einer bis zehn von 100 Behandelten.

Gelegentlich bedeutet: 0,1 bis 1 %, also einer bis zehn von 1.000 Behandelten.

Selten bedeutet: 0,01 bis 0,1 %, also einer bis zehn von 10.000 Behandelten.

Sehr selten bedeutet: weniger als 0,01 %, also einer oder weniger als zehn von 10.000 Behandelten.

Beipackzettel wecken Hoffnungen – und Befürchtungen.

Wenn Sie als Patientin oder Patient den Beipackzettel Ihres Medikaments lesen, entstehen bei Ihnen Erwartungen – Hoffnung ebenso wie Befürchtungen. Ist Ihre Erwartungshaltung negativ, spricht man von einem Noceboeffekt (lateinisch: „Ich werde schaden“). Erfahren Sie z.B., dass ein Bekannter ein bestimmtes Medikament schlecht vertragen hat, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Medikament auch bei Ihnen suboptimal wirkt oder Nebenwirkungen hervorruft. Untersuchungen weisen darauf hin, dass durch den Noceboeffekt (weitere Erklärungen finden Sie hier) im zentralen Nervensystem Prozesse angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen können. Angst vor Schmerzen kann z.B. im Nervensystem körpereigene schmerzhemmende Substanzen blockieren, sodass Schmerzleitung und -wahrnehmung verstärkt werden. Solche Noceboeffekte spielen im Alltag wahrscheinlich eine noch größere Rolle als der Placeboeffekt, sind aber viel weniger gut untersucht.

Noceboeffekt: Was Beipackzettel mit Torschützen und Schokolade zu tun haben

„In der klinischen Praxis werden Noceboeffekte sehr oft durch das Lesen des für Laien meist schwer verständlichen Beipackzettels ausgelöst“, warnt Prof. Ulrike Bingel, Leiterin des Schmerzzentrums der Universitätsmedizin Essen und Placeboforscherin. Die statistischen Angaben zu den möglichen Nebenwirkungen verunsichern viele Patientinnen und Patienten. Selbst wer sich mit Zahlen auskennt, ist vielleicht doch bei der Einordnung der Wahrscheinlichkeiten schnell überfordert. Zumal man sich sowieso schon in einer angstbesetzten Situation befindet.

Was heißt also „sehr häufig“, wenn es um das Auftreten einer möglichen unerwünschten Wirkung geht? Die Standardformulierung bedeutet: mehr als einer von zehn Behandelten. Das wird als „sehr häufig“ bezeichnet, „aber dies ist ein völlig ungewohnter Sprachgebrauch für uns“, erklärt Prof. Bingel. Wer würde schon sagen, dass ein Fußballstürmer sehr häufig das Tor trifft, wenn er neun von zehn Bällen verschießt? Prof. Ulrike Bingel erklärt ihren PatientInnen das oft so:

„Stellen Sie sich mal den Beipackzettel für eine Tafel Schokolade vor. Die Liste wäre sehr lang. So kann man auf einer geschmolzenen Schokolade ausrutschen und sich das Genick brechen, sich an einem zu großen Stück verschlucken, ersticken oder bei einer bisher unerkannten Erdnussallergie in einen tödlichen Schockzustand mit Atemnot geraten. Das ist natürlich sehr selten wie auch viele mögliche Nebenwirkungen, die in Beipackzetteln aufgeführt sind. Wenn Sie eine Schokolade verzehren, vielleicht gar eine halbe Tafel, ist die Wahrscheinlichkeit schon größer, dass Sie hinterher unter Völlegefühl leiden, Sie müde und unkonzentriert werden. Wenn Sie häufig (!) eine ganze Tafel verputzen, sind Übergewicht, Diabetes, daraus resultierende mangelnde körperliche Aktivität sowie ein Herz- oder Schlaganfall durchaus möglich. Auch die Zahnschäden durch Karies, falls man sich nicht nach dem Genuss die Zähne putzt, darf man nicht vernachlässigen. Millionen Menschen essen dennoch mit Genuss Schokolade, weil sie ihnen schmeckt und ihnen in Maßen eben auch guttut."

"Uns geht es mit diesem bewusst humorvollen und lebensnahen Beispiel nicht darum, die möglichen Risiken einer medikamentösen Behandlung zu bagatellisieren", erklären Prof. Winfried Rief von der Universitätsklinik in Marburg und Prof. Ulrike Bingel von der Universitätsmedizin Essen. "Aber wir wünschen uns, dass Patientinnen und Patienten bewusster den zu erwartenden Nutzen und mögliche Risiken von medikamentösen Behandlungen abwägen und dafür notwendige Informationen möglichst angstfrei aufnehmen können."

Unsere Bitte

Erzählen Sie uns Ihre persönliche Geschichte mit dem Placebo- und Noceboeffekt! Medizin lebt auch von Erzählungen. Deshalb sammeln wir für den Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“ die vielfältigen Erfahrungen von PatientInnen mit ihren eigenen Erwartungen. Näheres erfahren Sie hier.

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.