Zu welchen Aufgaben trägt das Kleinhirn des Menschen bei, und wie arbeitet es? Welche kognitiven und emotionalen Prozesse unterstützt das Kleinhirn? Und wie könnte es zu Placebo-Effekten beitragen? An den Antworten zu diesen Fragen forscht Prof. Dagmar Timmann

Prof. Dagmar Timmann

Die Kleinhirn-Forscherin Prof. Dagmar Timmann ist Leiterin der Arbeitsgruppe Experimentelle Neurologie und der Ataxie-Sprechstunde am Universitätsklinikum Essen

„Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass das Kleinhirn zu Placebo-Effekten beiträgt. Das ist bisher erstaunlich wenig untersucht.“

Prof. Dagmar Timmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Experimentelle Neurologie und der Ataxie-Sprechstunde, Universitätsklinikum Essen

Ich bin eine klinische Neurowissenschaftlerin und teile meine Arbeit zwischen einer ambulanten Sprechstunde für Menschen mit Ataxie-Erkrankungen und der Arbeit im Labor auf. Ich habe Medizin studiert und bin Fachärztin für Neurologie, arbeite aber seit vielen Jahren überwiegend wissenschaftlich. Meine klinische und meine wissenschaftliche Arbeit sind dabei eng verzahnt.

Ataxien sind Erkrankungen, bei denen schwerpunktmäßig das Kleinhirn betroffen ist. In meiner wissenschaftlichen Arbeit interessiere ich mich dafür, was das Kleinhirn beim Menschen macht und wie es funktioniert. Dafür untersucht meine Arbeitsgruppe Betroffene mit verschiedenen Erkrankungen des Kleinhirns, häufig sind das Erberkrankungen. Wir schließen aus den zu beobachtenden Defiziten rück, wozu man das Kleinhirn braucht. Dabei kommen auch bildgebende Verfahren zum Einsatz, insbesondere die Magnetresonanztomographie (MRT). Wir nutzen das MRT, um genau zu erfassen, welche Orte im Kleinhirn bei Erkrankten betroffen sind.

Wir untersuchen aber auch gesunde Menschen mittels funktioneller MRT (fMRT) und sehen uns an, wann und welche Bereiche des Kleinhirns bei bestimmten Aufgaben aktiv sind, und wie das Kleinhirn mit anderen Hirnarealen interagiert. Wir haben hierbei die Möglichkeiten ein MRT-Gerät mit einem besonders starken Magneten (7 Tesla-MRT) am Erwin L. Hahn Institut für Magnetresonanz (ELH) in Essen zu nutzen.

Prof. Dagmar Timmann: die faszinierenden Aufgaben des Kleinhirns

Warum ich gerade diesen Forschungsschwerpunkt ergriffen habe:
Das ist ein Zufall. Ich stamme aus der Baby-Boomer-Generation. Als ich mit dem Studium fertig war, war es sehr schwer eine Stelle zu finden. Meine erste Stelle war eine Anstellung für sechs Monate in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Essen als Ärztin im Praktikum (AiP). Ich habe in Tübingen studiert, und bald nach meinem Anfang in Essen wurde die Klinik von Prof. Hans-Christoph Diener übernommen, der davor in Tübingen tätig war. Sein Forschungsgebiet zu der Zeit war die Funktion des Kleinhirns. Prof. Diener hat mich zu dem Thema gebracht, an dem ich seitdem (und das sind mehr als 30 Jahre) mit unveränderter Freude und unverändert hier in Essen arbeite.

Was mich an der Placeboforschung fasziniert:
Das Kleinhirn hat man lange fast ausschließlich mit motorischen Aufgaben in Verbindung gebracht, also mit der Kontrolle des Gleichgewichts und der Bewegungskoordination sowie mit motorischem Lernen. In den vergangenen Jahren haben wir jedoch gelernt, dass das Kleinhirn weit mehr macht: Wahrscheinlich unterstützt es fast alle Aufgaben des übrigen Gehirns, also auch Kognition und die Kontrolle von Emotionen, aber auch Schmerzen.

All diesen Aufgaben liegt möglicherweise ein ähnlicher Beitrag des Kleinhirns zugrunde: und der hat etwas mit seiner Fähigkeit zu tun, Voraussagen zu treffen (Prädiktion). Placebo-Effekte haben auch sehr viel mit Prädiktion zu tun. Die Untersuchung des Beitrags des Kleinhirns zu Placebo-Effekten ist deshalb ein wunderschönes Beispiel, weiter zu belegen und besser zu verstehen, welchen Beitrag das Kleinhirn zu nicht-motorischen Aufgaben leistet.

Was mir im (beruflichen wie privaten) Leben Freude bereitet:
Mir bringt es viel Freude, in Ruhe nachzulesen, eigene Ergebnisse in Zusammenhang mit Befunden in der Literatur und von anderen Laboren zu bringen, und – das macht die größte Freude – plötzlich neue Zusammenhänge zu erkennen. Auch wenn der Fortschritt meist ein sehr kleiner ist: Wenn plötzlich eine Lösung vor Augen steht, bringt mir das viel Spaß. Das passiert nicht nur beim wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch beim Vorbereiten vom Unterricht und bei der Diagnostik von Patienten in der Ataxie-Sprechstunde. Ich bin in der glücklichen Lage, einer Arbeit nachzugehen, die mir seit vielen Jahren unverändert viel Freude macht!

Privat gehe ich gerne am Samstag auf den Wochenmarkt in Essen-Rüttenscheid, trinke sehr gerne einen Milchkaffee im Mörder in der Borsigstrasse in Berlin-Mitte und frühstrücke mit großer Freude im Cron & Lanz in Göttingen.

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.