Dr. Peter Schüler

Dr. Peter Schüler ist Neurologe und wechselte 2000 in die CRO-Industrie. Die Contract Research Organizations im pharmazeutischen Bereich führen zum Beispiel klinische Wirksamkeits- und Zulassungsstudien im Auftrag durch. Seit 2007, zuletzt in der Rolle des Senior Vice President Drug Development Neurosciences, widmet sich Dr. Schüler bei ICON der Optimierung und wissenschaftlichen Validität von Studiendesigns und Entwicklungsplänen. ICON ist mit 45.000 Mitarbeitern einer der größten CROs. An der Universität Duisburg-Essen ist Peter Schüler für den Masterstudiengang „Pharmazeutische Medizin“ zuständig. Er ist Herausgeber der Elsevier Textbücher „Re-engineering clinical trials” und „Innovation in Clinical Trial Methodologies“ und aktuell Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pharmazeutische Medizin (DGPharMed).

Sehr viele Placeboeffekte und andere Biases – wie die Spontanremission – beeinflussen den Ausgang klinischer Studien in vielfältiger Weise und verfälschen unter Umständen das Ergebnis für den pharmakologischen Effekt. Das können Spontanremissionen sein oder auch, dass PatientInnen in der Studie dem Arzt vermeintlich einen Gefallen tun wollen und positive Behandlungseffekte berichten. In Studien, in denen man einen hohen Placeboeffekt vermutet, sollte deshalb das Training der Studienteilnehmenden und auch die Bestimmung der primären Studienendpunkte, also der klinisch relevanten Ergebnisparameter, unter diesen Aspekten klug definiert werden. Nach neuesten Daten ist auch die Vorhersage von Placeboeffekten in einzelnen Patienten aufgrund bestimmter Merkmale als statistische Co-Variante möglich.

Ein Gespräch über die Herausforderungen bei klinischen Studien führte Gaby Miketta vom Public-Outreach-Team des SFB/TRR 289 am 10. Mai 2023 während der SIPS-Konferenz im Landschaftspark Duisburg-Nord.

Herr Dr. Schüler, müssen wir klinische Studien ganz neu denken?

Dr. Schüler: Ja und nein. Es gilt noch immer: Wer heilt, hat Recht. Könnten nicht auch nur Placebos – kostengünstiger und eventuell ohne Nebenwirkungen – den gleichen Effekt erzielen wie Medikamente? Die Wahrheit liegt, wie meist im Leben, in der Mitte. Nehmen wir das Thema Schmerzen: Natürlich haben viele Schmerztherapien einen sehr hohen Placeboeffekt. Aber es gibt auch viele Patienten, die ohne Schmerzmedikamente gar nicht zurechtkommen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß.

Was ist denn der Mittelweg?

Der Punkt ist, die für den einzelnen Betroffenen passende Therapie zu finden. Das Stichwort der „personalisierten“ Medizin gilt eigentlich immer. Oft kann man schon mit niedrigen Dosierungen gute Wirkungen erzielen, besonders wenn man vorher den Patienten die Wirkungen der Behandlung gut erklärt. Glaube versetzt nun einmal Berge, und zum Teil recht große.

Wenn man die Erkenntnisse aus der Placeboforschung heranzieht, dann müsste man in klinischen Studien in vielen Studienarmen alle Einflussfaktoren gegeneinander testen: die Worte des Arztes, das Aussehen der Tablette, die Vorinformationen der ProbandInnen und vieles Ähnliches mehr – das wäre eine lange Liste.

Damit würde man die Dinge auf die Spitze treiben und es wäre wissenschaftlich interessant, aber das macht man nicht, weil es schlicht nicht zu organisieren wäre. Man muss also einen Strich ziehen und sagen: Wenn das Medikament über diese Hürde springt, wird es wohl wirksam sein. Wir können nicht das allerfeinste Schleifpapier nehmen, um noch den letzten Effekt herauszukitzeln, den man sonst gar nicht sehen würde. Wir müssen Wert darauflegen, was für den Patienten relevant ist. Das ist entscheidend. Diese Auffassung wird auch von den Zulassungsbehörden weltweit vertreten. Aber genau deshalb ist es wichtig, dass „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft“ zum Beispiel den Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“ fördert, um weitere Einflussfaktoren zu identifizieren. Schön wäre es, wenn auch die Pharmaindustrie hier aktiv mithelfen würde.

Welche drei Faktoren sehen Sie als essenziell in klinischen Studien an, also die Kernfaktoren?

Das ist für mich erstens immer noch die Randomisierung. Die Zufallsverteilung ist aber nicht immer ohne Weiteres gegeben, weil es viele Parameter gibt, die nicht sicher zufällig zuzuordnen sind. Das sind vor allem eher die seltenen Charakteristika in der Probandengruppe wie etwa hohes Alter. Als Beispiel: In einem Studienarm sind sechs Patienten über 80, in dem anderen aber fünfzehn. Und das kann wegen verändertem Metabolismus im Alter schon einen Unterschied machen. Dies Dilemma adressiert die Stratifizierung, also dass man das Zufallsprinzip nicht komplett dem Zufall überlässt, sondern für bestimmte Kriterien erzwingt, dass die Patienten gleich verteilt sind.
Das Zweite sind für den Patienten relevante Endpunkte, sprich: Die Studie misst Dinge, die für die Betroffenen wichtig sind. Viele Skalen stammen noch aus den 1990er-Jahren und wurden sehr akademisch konzipiert, ohne die Hinzuziehung von Betroffenen, also zum Beispiel den Therapieerfolg, der durch den Patienten und seine subjektive Einschätzung selbst dokumentiert ist (Patient Reported Outcome). Das ändert sich gerade.
Und das führt zum dritten Punkt, der Patienten-Zentrizität und -Diversität. Nicht nur die Endpunkte, die ganze Studie muss viel besser auf die Lebensrealität ausgerichtet sein. Dann können auch Betroffene aus bislang unterversorgten und unterrepräsentierten Populationen an Studien teilnehmen, wie z.B. Migranten, aber auch Berufstätige, Alleinerziehende usw. Ein Beispiel: Nicht jeder Parameter muss am Studienzentrum erhoben werden. Corona hat uns gelehrt, dass auch in Studien die Telemedizin viel mehr genutzt werden kann, um so Studien attraktiver zu machen. Die Hoffnung ist, dass damit auch die Studienergebnisse besser die Alltagsrealität widerspiegeln.

Was raten Sie jungen WissenschaftlerInnen?

Die Neurowissenschaft ist ein hochinteressantes Arbeitsfeld. Wenn ich an meine klinische Zeit Ende der 1990er-Jahre zurückdenke, hatte man für ganz wenige Erkrankungen wirksame Therapien. Das hat sich komplett gedreht. Denken Sie nur an die Multiple Sklerose, wo jetzt wirksame Medikamente zur Verfügung stehen, oder die Alzheimer-Erkrankung, für die nach über 20 Jahren Forschung seit diesem Jahr endlich klinisch relevante Behandlungen möglich sind. Ein weiteres spannendes Feld sind die genbedingten Erkrankungen, wie die spinale Muskelatrophie und die Duchenne’sche Muskeldystrophie: früher eine katastrophale Diagnose für Eltern und Kind, heute durch gentechnische Behandlungen heilbar. Also Glückwunsch an alle Neurowissenschaftler, die sich dieses Feld ausgesucht haben, aber man sollte sich aus seinem Elfenbeinturm herausbewegen und den interdisziplinären und internationalen Austausch suchen. Das bringt einen voran, auch wenn man in die klinische Forschung möchte.