Wie verarbeitet das Gehirn Schmerzen, und wie beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln das Schmerzempfinden, aber auch die Wirksamkeit von Behandlungen? Welche Bedeutung haben die Erwartungen und Vorerfahrungen von Patientinnen und Patienten auf den Behandlungserfolg? Und wie können wir diese Effekte für eine bessere Schmerztherapie nutzen? An den Antworten auf diese Fragen forscht Prof. Ulrike Bingel

Prof. Ulrike Bingel

Prof. Dr. med. Ulrike Bingel ist Leiterin des Zentrums für Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Essen und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs Treatment Expectation

Ein bedeutsamer Anteil, manchmal bis zu 70 % der Wirkung von Schmerztherapien basiert auf Erwartungseffekten.

Prof. Ulrike Bingel, Leiterin der Schmerzambulanz an der Universitätsmedizin Essen und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs Treatment Expectation

Ich bin Leiterin des interdisziplinären Zentrums für Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Essen (AöR). Als Neurologin behandle ich überwiegend PatientInnen mit chronischen Schmerzen, also Schmerzen, die über mehrere Monate anhalten oder immer wiederkehren: Rückenschmerzen, Nervenschmerzen, Kopfschmerzen oder Schmerzen, die im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen entstehen. Einen großen Teil meiner Arbeitszeit widme ich auch der Forschung. Diese Doppelrolle als Medizinerin und Wissenschaftlerin, in meinem Fall der Neurologie und der Neurowissenschaften, bezeichnet man auch als „Clinician Scientist“.
Und hier interessieren mich und mein Team viele spannende Fragen:

Wie verarbeitet das Gehirn Schmerzen, und wie beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln das Schmerzempfinden, aber auch die Wirksamkeit von Behandlungen?

Welche Bedeutung haben die Erwartungen und Vorerfahrungen der PatientInnen auf den Behandlungserfolg? Und wie können wir diese Effekte für eine bessere Schmerztherapie nutzen?

Wie vermeiden wir die schädlichen Effekte von negativen Erwartungen, Ängsten und Sorgen – die sogenannten Noceboeffekte?

Das ist für mich ein faszinierendes und klinisch sehr bedeutsames Forschungsfeld. Denn die Antworten auf diese Fragen könnten Behandlungen wirksamer und verträglicher machen, sodass wir PatientInnen mit chronischen Schmerzen, aber auch mit anderen Erkrankungen, noch besser helfen können.

Ich habe an der Universität Essen und in London Medizin studiert, habe meine Ausbildung zur Neurologin in Hamburg gemacht und war zu Forschungsaufenthalten in den USA und in Oxford. Seit 2013 bin ich Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen.

Prof. Ulrike Bingel: Medizinerin und Wissenschaftlerin

Was mich persönlich bewegt

Wie ich mich auf den Bereich chronischer Schmerz und Schmerztherapie festgelegt habe.
Mich haben immer schon sehr viele Dinge interessiert und neugierig gemacht. Für das Thema Schmerz – damals insbesondere der Kopfschmerz – hat mich ein Professor (Prof. Peter Goadsby) begeistert, den ich während meines Praktischen Jahres im renommierten Queens Square Krankenhaus in London kennenlernen durfte. Dann habe ich angefangen, zum Thema Gehirn und Schmerz zu forschen, mich klinisch zur Schmerztherapeutin weitergebildet, und so kam eins zum anderen. Auch wenn das nun schon viele Jahre her ist, die offenen Fragen sind nicht weniger geworden, obwohl wir unter anderem durch die funktionelle Bildgebung des Gehirns schon viele relevante Einsichten und Erkenntnisse erlangt haben. Chronische Schmerzen sind aber weiterhin ein großes Problem auf globaler und gesellschaftlicher Ebene und vor allem natürlich für die einzelnen PatientInnen und ihre Familien. Der Schlüssel zu effektiveren Behandlungen und Präventionsmaßnahmen ist ein noch besseres Verständnis dafür, was dabei im Gehirn und dem restlichen Nervensystem passiert.

Warum die Placeboforschung für mich so faszinierend ist.
Die sogenannten Placeboeffekte sind nicht die Effekte von Milchzuckertabletten oder anderen Scheinbehandlungen („Placebos“), sondern die Wechselwirkungen aus kognitiven Prozessen, also unseren Erwartungen und Vorerfahrungen, mit physiologischen – eben den körperlichen – Vorgängen. Was genau dabei in Gehirn und Körper passiert, finde ich ungeheuer spannend. Ganz besonders motiviert mich das Potenzial, das hinter der Erkenntnis dieser Prozesse steckt. Wenn wir die Kombination aus der von unserem Gehirn gesteuerten „körperlichen Apotheke“ und etablierten und neu zu entwickelnden Therapien optimieren könnten, würde das – aus meiner Sicht – eine ganz neue Ära in der Medizin anstoßen.
Nicht zuletzt fasziniert mich auch die Frage, wie und warum uns die Evolution mit diesen Phänomenen ausgestattet hat. All diese Fragen kann keine WissenschaflterIn und keine MedizinerIn alleine klären. Diese Forschung findet an den Schnittstellen zwischen vielen Bereichen statt – das ist sehr inspirierend, und man lernt immer wieder Neues.

Was mir Freude im Leben bereitet.
Es macht mich glücklich, und ich fühle mich auch sehr privilegiert, dass ich mich (fast) den ganzen Tag mit diesen spannenden Fragen beschäftigen darf. Für mich persönlich ist dabei das Nebeneinander von Klinik und Wissenschaft keine Doppelbelastung, sondern etwas, das sich (von einigen mühsamen administrativen Angelegenheiten mal abgesehen) gegenseitig befruchtet und antreibt. Der Dialog und die Zusammenarbeit über viele Fachrichtungen und Disziplinen hinweg innerhalb meines wunderbaren Teams und mit den vielen KollegInnen, mit denen ich national und international schon lange zusammenarbeite, bereiten mir große Freude.
Privat finde ich Glück im Miteinander von geliebten Menschen, in der Natur, in der Bewegung und bei gutem Essen, das am besten jemand anderes kocht :).

*Nach Rücksprache mit Patientinnen, Patienten und Vertretern von Patientenorganisationen haben wir uns entschieden, für die Texte, die sich direkt an Patienten wenden, in der Ansprache die weibliche und männliche Form oder ein großes Binnen-I anzuwenden. Ist dies nicht sinnhaft, haben wir zugunsten der besseren Verständlichkeit und des Leseflusses auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.